Einzelschicksale von Repressierten

Im nachfolgenden Abschnitt werden interessante Einzelschicksale von Verhafteten exemplarisch dargestellt, um den Ablauf eines Verfahrens verständlich zu machen.

Der „Hauptschuldige“ – Johann Müller

Johann Müller, geboren am 15. September 1893 in der Kolonie Alexanderfeld (Gouvernement Jekaterinoslaw), wird in den Ermittlungsakten des NKWD als Begründer der „terroristischen Organisation“ in Friedenstal dargestellt. Müller war deutscher Staatsangehöriger und Sohn des Baptistenpredigers Jakob Müller, gebürtig aus Lakendorf in Ostpreußen.

Das Aktenmaterial des NKWD zeichnet das Bild einer „Verschwörung“ der Deutschen gegen die Sowjetunion. Müller habe im Jahr 1925 von einem Mitarbeiter des deutschen Konsulats in Odessa die Anweisung erhalten, Arbeit gegen die sowjetische Regierung zu betreiben und soll zusammen mit anderen deutschen Staatsangehörigen eine kontrarevolutionäre deutsche Organisation gegründet haben, die im Gebiet Odessa und der Moldauischen ASSR tätig gewesen sei.

Die Organisation habe den Fall vorbereitet, dass das Deutsche Reich die Ukraine überfalle und soll mit Waffen…

Müller wurde am 12. August 1937 durch den NKWD verhaftet und in das Gefängnis in Odessa verbracht.

Über Vorkommnisse in Friedenstal gibt die Ermittlungsakte zu Müller kaum Auskunft.

Lebte in Friedenstal bei Andreas Dupper.

Falsche Zeugenaussagen
Das Schicksal von Johann Leicht

Johann Leicht wurde am 3. August (jul.) / 16. August 1905 (greg.) in Klein-Bergdorf als Sohn der Großbauern David und Barbara Leicht geboren. Im Jahr 1907 kam die Familie nach Friedenstal, wo Leicht die Dorfschule besuchte. 1929 heiratete er Emilie Kison, das Paar hatte zwei Kinder.
Die Familie Leicht beschäftigte sich mit der Landwirtschaft. Johanns Eltern wurden von den Sowjets als sogenannte Großbauern (Kulaken) geführt und sollen vor der Revolution etwa 75 Dessjatinen Land besessen haben. In der Zeit vor der Kollektivisierung soll der Vater über etwa 100 ha Landbesitz verfügt haben, Johann selbst über etwa 50 ha. Der Vater wurde 1930 als Kulak in die Region Jakutsk verbannt und hielt sich ab 1933 in der Stadt Odessa auf.

Johann wurde am 29. Dezember 1937 durch die NKWD-Kreisabteilung Krasnye Okny unter dem Vorwurf verhaftet, er habe kontrarevolutionäre Gerüchte verbreitet, mit denen er die (kommunistische) Partei und die sowjetische Regierung diskreditieren wollte. Ferner habe weitere aufständische Tendenzen gezeigt.

In nur einem einzigen (dokumentierten) Verhör am 4. Januar 1938 wurde Leicht zu den Vorwürfen angehört. In diesem stritt er alle Anschuldigungen ab.

Während der „Ermittlungen“ wurden die Zeugen Idel Hozkosik (1882-1941), später Vorsitzender des Karl-Liebknecht-Kolchos in Friedenstal, Emil Treichel (1906-?), Pjotr Simonow (1906-1941), Vorsitzender des Blücher-Kolchos in Wyschina, Josef Müller (1908-1941) und Iwan Onischtschenko (1910-1941) zu ihm befragt. Laut den Aussageprotokollen belasteten die Zeugen Leicht, so sollen sie von Handlungen Leichts berichtet haben, in denen er andere Mitarbeitende des Wyschinaer Kolchos von der Teilnahme an der Staatsanleihe abhalten wollte oder das Verhalten der Sowjetregierung bezüglich bestimmter „Vaterlandsverräter“ kritisiert habe.

Der Fall wurde am 22. Februar 1938 von der Sondersitzung des NKWD der UdSSR behandelt und Leicht zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Leicht wurde in das Krasnojarskaer Gulag (Kansklag) überstellt.

Mit Schreiben vom 12. Mai 1939 wandte sich Leicht an den Obersten Sowjet der Moldauischen ASSR und beschwerte sich über das – in seinen Augen – falsche Urteil. Er habe sich niemals mit irgendeiner kontrarevolutionären Aktivität beschäftigt und nie derart gedacht. Bei den Ermittlungen sei ihm eröffnet worden, er habe bei einer Versammlung des Kolchos gegen die Erschießung Tuchatschewskis gestimmt, habe gesagt, dass Deutschland bald die Ukraine einnehme, gegen die staatlichen Darlehen agitiert habe, wobei ihm nie irgendein Beweis dieser Vorwurf vorgelegt worden sei. Er führte an, dass er ein staatliches Darlehen von 430 Rubel unterschrieben habe. Wegen dieser Ausführungen erachtete er, dass er fälschlicherweise verhaftet und isoliert wurde und möchte deshalb darum bitten, seine Akte nochmals durchzusehen und ihn zu befreien, damit er weiter seiner ehrlichen Arbeit im Kolchos nachgehen könne. Während der Durchsuchung seien ihm 535 Rubel abgenommen worden, die er im Kolchos erarbeitet habe. Er habe weder ein Protokoll der Durchsuchung noch eine Quittung über das beschlagnahmte Geld erhalten, obwohl er aus dem Tiraspoler Gefängnis und aus dem Lager heraus darum gebeten habe.

Tatsächlich wurde in Folge des Schreibens erneut ermittelt. Es wurden Bescheinigungen vom Trechgrader Dorfsowjet und vom Wyschinaer Kolchos eingefordert, die jedoch keine Angaben zu einer angeblichen kontrarevolutionären Einstellung Leichts machten. Die Bescheinigung des Kolchos gibt sogar an, Leicht sei seiner Arbeit, der Betreuung von Hengsten, gewissenhaft nachgegangen

Bei einer erneuten Befragung Hozkosiks am 25. Mai 1940 sagte dieser, dass er über antisowjetische Aktivitäten Leichts nichts wisse. Ferner sagte er, dass er seine Angaben in der Befragung am 16. Dezember 1937 nicht bestätige, da diese falsch angegeben habe. Er gestehe, dass er, als Kommunist, durch den ehemaligen Leiter der Kreisabteilung des NKWD herbeigerufen wurde und ihm gesagt wurde, er solle solche Angaben machen. Er gab an, dass er nicht wisse, in welchen Fällen er noch falsche Angaben gemacht habe, doch er habe es definitiv noch bei anderen Fällen getan. Er habe die Angaben nicht mit dem Ziel gemacht, Leute ins Gefängnis zu bringen, sondern aus Angst.

Ebenso wurde am 25. Mai 1940 erneut der Vorsitzende des Wyschinaer Kolchos, Peter Simonow, befragt. Simonow bestätigte seine Angaben vom 4. Januar 1938 und den Inhalt der Bescheinigung vom 16. Dezember 1937 nicht, da die Angaben falsch seien. Als Leicht verhaftet wurde, gab er, als Vorsitzender des Kolchos, der Kreisabteilung des NKWD eine Bescheinigung darüber, was er über Leicht wisse. Daraufhin habe ihn der Leiter der Kreisabteilung zu ihm gerufen und gefragt: „Wieso schreibst du solche Bescheinigungen?“. Er habe angefangen, Simonow durchgängig zu beschimpfen, wonach er ihm den Text der Bescheinigung gegeben habe, die Sie mir gerade vorgelesen haben, und sagte, dass er sie abschreibe und ihm geben würde, was ich auch tat. Ebenso schrieb Bruk die Angaben (in der „Befragung“) über Leicht und sagte, dass ich diese Angaben unterschreiben solle, was ich auch getan habe. Hiernach hat er mir gesagt, dass ich solche Angaben zu allen geben solle, was ich auch getan habe. Ich gab falsche Angaben zu Friedrich (d. Christians) Leicht, Johann (d. Johanns) Unruh, Jakob Ritter und anderen Personen. Er habe sich deshalb nicht an höhere Stellen gewandt. ………… Angst vor Inhaftierung (schwer zu lesen).

Hiernach folgte eine seltsame Befragung von Iwan Onischtschenko. Dieser gab zuerst an, über antisowjetische Tätigkeiten Leichts nicht zu wissen. Nachdem er mit dem Inhalt der Befragung vom 4. Januar 1938 konfrontiert wurde, bestätigte er diese. Er wurde gefragt, wieso er vorher gesagt habe, dass er nichts von antisowjetischen Tätigkeiten Leichts wisse. Er habe so geantwortet, weil er es vergessen habe. Er sei ein ungebildeter Mensch und habe sich erst daran erinnert, als sie es ihm vorgelesen hätten. Er erzählte dann etwas über die angeblich antisowjetischen Tätigkeiten Leichts. Die Ermittler fragten daraufhin, ob er 1938 falsche Angaben gegeben hätte und ihm es nun unangenehm sei, dies zuzugeben und er deshalb die Angaben bestätige. Nein, es seien seine richtigen Angaben, doch er könne sich nicht mehr genau an alles erinnern.

Josef Müller gab an, dass ihm das Protokoll 1938 vorgelesen wurde, er aber nicht alles genau verstanden habe, da er schlecht Russisch spreche.

 

Einer Bescheinigung des Wyschinaer „Blücher“-Kolchos vom 16. Dezember 1937 zufolge war Leicht unzufrieden mit der Sowjetregierung, agitiere gegen sie und sagte, dass es sich in der Sowjetunion schlecht leben lasse. Die Entkulakisierungen seien ebenso falsch, den Leuten sei alles genommen worden. Doch dies sei alles nicht auf Dauer. Ebenso habe er seine Unzufriedenheit bei der Unterzeichnung der Staatsdarlehen zur Stärkung der Verteidigung der UdSSR zum Ausdruck gebracht. Ebenso habe Leicht gegen die stalinistische Verfassung geworben, dass die geheime Wahl falsch abgehalten worden sei, weil die Menschen gezwungen waren zu wählen, den „sie“ wollen, nicht er selbst.

 

Am 4. Januar 1938 fand eine Befragung mit Leicht statt. Dem Protokoll zufolge sei Leicht eröffnet worden, dass er beschuldigt sei, kontrarevolutionär und faschistisch eingestellt sei, er sich mit der Verbreitung von verschiedenen kontrarevolutionären provokativen Gerüchten gegen die Partei und die sowjetische Regierung beschäftige und aufständische Tendenzen zeigte. Es seien mehrere Vorwürfe gegen Leicht erhoben worden, die er jedoch alle bestritten hätte.

Am 16. Dezember 1937 habe die Befragung von Idel Gotzkozik (1882-1941), seinerzeit Arbeiter im Trechgrader „Karl-Liebknecht“-Kolchos (ab 1938 Vorsitzender des Trechgrader Dorfsowjets), stattgefunden. In der Befragung habe Gotzkozik angegeben, dass er Leicht gut kenne. Der Vater sei enteignet und verbannt worden, jedoch aufgrund hohen Alters freigelassen worden. Im Herbst 1937 seien drei Brüder von Leicht als Feinde des Volkes verhaftet worden, da sie in Kolchosen schädliche kontrarevolutionäre Arbeit betrieben hätten. Leicht hätte engen Kontakt mit ihnen, der sich in postalischer und materieller Hilfe….

Quelle:
Deržavnyj archiv Odes’koï oblasti (DAOO), F. R-8065, Op. 2, Spr. 3272.

Eduard Kühlbauch (1914-1995)
Verurteilt zu drei Jahren Straflager, erneut verhaftet 1949 

Eduard Kühlbauch war der Sohn der Eheleute Eduard Kühlbauch (1890-1937) und Eva geb. Schock (1889-1953).

Quelle:
Deržavnyj archiv Odes’koï oblasti (DAOO), F. R-8065, Op. 2, Spr. 3581, 3582, 3583.